Was stellt man sich vor, wenn man an Argentinien denkt?


Zuallererst fällt wohl den meisten Leuten der Tango ein, „un pensiamento triste, que se puede bailar“ („ein trauriger Gedanke, der getanzt werden kann“), gleich darauf folgen vielleicht die Gauchos, wilde Cowboys, das Stadtlebend verachtend, deren Zuhause die endlose Weite der Pampa ist; das unbegrenzte Grasland, welches im Westen von den stattlichen Anden begrenzt wird. Weiter denkt man an das Nationalgetränk, den Mate. Ein sehr starker Schwarztee, bitter oder süß zu genießen und getrunken aus einem metallenem Strohhalm. Das Asado (halbes Rind, 1 – 2 Std. gegrillt) darf natürlich nicht fehlen, ebenso wenig die fracturas (Gebäck) und das argentinische Weißbrot. Von Argentinien weiß man außerdem auch, dass es zahlreiche europäische Facetten aufzeigen kann, welche es seinen Einwanderern aus Italien, Spanien und teilweise auch Deutschland verdankt.

Hier hört es dann meistens auf an exotischen Vorstellungen und Clichés und das sind die Eindrücke mit denen auch ich in ein, mir ansonsten relativ unbekanntes, Land gereist bin und welche ich ebenfalls bestätigen kann. Doch ich kann nun, nach schon einer Woche, diese Liste erweitern und möchte das anhand meiner Schilderung der Erlebnisse, die ich hier seit dem vierten September erfahren durfte, tun.

Als wir (Maren, Rebecca à Misiones, Ramona und ich à Mendoza), nach ein paar gepäcktechnischen Schwierigkeiten, am Samstagmorgen des vierten Septembers nun endlich in der Hauptstadt Argentiniens angekommen waren, konnte ich es kaum fassen, so schnell über Nacht von Paris nach Buenos Aires gekommen zu sein. Ein seltsames Gefühl, bestehend aus Freude, Neugierde und einem kleinen bisschen Angst vor dem, was uns nun erwarten würde, machte sich in mir breit. Nach sämtlichen Gepäck- und Passkontrollen wurden wir von Ruben Ziegler, unserem Mentor, im schönsten Deutsch empfangen, was uns ein bisschen Heimatgefühl gab und welches die neuen Einflüsse, welche ab jetzt auf uns einströmten, etwas ablinderten.

Die beinahe zwei Tage in der größten Stadt Argentiniens (12 Mio Einwohner) haben wir sehr genossen. In der perfekt deutsch sprechenden Familie Ziegler wurden wir in die Kultur Argentiniens (unter anderem auch die Straßenbaukultur (leicht löchrig), Verkehrsordnungskultur (leicht undurchschaubar und gefährlich), usw.) sanft hineingeführt, kosteten zum ersten Mal Asado (ich nenne mich in Deutschland eine inkonsequente Vegetarierin, hier werde ich allerdings zum Fleischfresser mutieren) und lernten einige Jugendliche kennen, mit denen wir nachts um 11 Popcorn aßen und im Dunklen Völkerball spielten. Übrigens herrschte in Buenos Aires eine Eiseskälte, sehr viel kälter als in Deutschland, deswegen waren wir vier Mädels nach zwei Tage Dauer-Bibbern froh, in den sonnigen Westen und in den heißen Norden (wie antithetisch) flüchten zu können.

Als ich am Montagmorgen aufwachte, zog die weite, endlose Ebene der Pampa in der Provinz Mendoza an mir vorüber und die Sonne strahlte vom knallblauen Himmel auf unser „cochechama“ (wörtlich: Autobett àEin Bus, dessen Sitze sich relativ bequem zum Schlafen ausklappen lassen) und Ramona und ich stellten fest, dass wir unser Ziel wohl bald erreicht hatten. Allerdings mussten wir 20 Minuten vor der schönsten Stadt Argentiniens erst einmal den Bus wechseln, da wir einen Motorschaden hatten. Miriam Pizzi erwartete uns schon in Mendoza, sie ist unsere Vorgesetzte und Verantwortliche, die uns in unsere Arbeit in Mendoza einweist.

Nach eineinhalb Tagen, in welchen wir unsere Gegend erkundet hatten und uns halbwegs in unserem Doppelzimmer, sowie der Außen-Garten-Küche „El Rancho“ eingerichtet hatten, besuchten wir unsere Arbeitsstelle: „Copa de leche“ (Milchtasse), wo wir ab nun einige Nachmittage der Woche verbringen würden, um Brote zu schmieren, Milchreis zu kochen und Tee auszuschenken für Kinder, die in dieser villa (Slum) der Millionenstadt leben und diese Hilfe dringend nötig haben. Abends haben wir die hiesige Jugendgruppe kennenlernen dürfen, wo wir bei der kleinen Einweihungsfete einer Wohnung Punkt Mitternacht Asado gegessen haben und einige Kontakte schließen konnten.

Die darauffolgenden Tage haben wir abwechselnd im „Copa de leche“-Barrio und bei der Familie Fernández verbracht. Leider ist Miriam momentan sehr krank und wir haben nur Emailkontakt mit ihr. Dafür verköstigt uns Gina Fernández unter anderem auch mit amerikanisch-argentinischem Mittag- und Abendessen, so dass wir bisher noch nicht allzu oft unser Selbst-Gekochtes essen mussten…einmal war genug ;). Steven und Gina, welche hauptsächlich die Arbeit im Barrio leiten, haben uns am Freitagabend auch mit in die „réunion de los jóvenes“ genommen, wo sich Jugendliche des Barrios treffen und ein Kurzfilm geschaut wurde, sowie Spiele gemacht. Es war eine sehr schöne Erfahrung, vor allem die (beinahe gleichaltrigen) Mädchen dort kennenzulernen, mit denen wir uns über Musik, Nationalspeisen und Klamotten ausgetauscht haben. Sie haben uns sehr herzlich aufgenommen und uns sofort unter ihre Fittiche genommen.

Den Tag darauf, Samstag, den elften September, verbrachten wir mal wieder bei Gina und Familie, um dort auf die Tageskinder (vier an der Zahl) aufzupassen, welche jedes Wochenende bei der Familie verbringen darf. Die Kinder stammen aus der ärmsten, gefährlichsten und größten villa Mendozas, von wo wir sie auch abgeholt haben. Mit unserem weißen Truck (übrigens ist das das erste mal, dass ich hier ohne Sicherheitsgurt längere Strecken zurücklege, wie alle hier…) fuhren wir durch die staubigen Gassen, begrenzt durch hohe Müllberge, Wellblechhütten und Holzbarracken. Ab und zu mal ein, bis auf die Knochen abgemagerter, Hund und ein paar Kinder, barfuß und in zerrissenen T-Shirts. Meist von adidas oder Puma…wahrscheinlich aber nicht so ganz echt. Durch diese Wüste von Dreck und Gestank fuhren wir also, um Oriel (3), Alex (5), Walter (7) und Johana (8) abzuholen, den halben Tag mit uns zu verbringen. Niemals hätte ich gedacht, dass in Argentinien, geschweige denn in Mendoza richtige Slums voller Armut, Trost- und Hilflosigkeit existieren. Es war eine harte Erfahrung und ein innerlicher Schock, ich kam mir naiv vor, geglaubt zu haben, dass Argentinien in allen Dingen mit Europa vergleichen zu sei. Diese Liste an „Nicht-Europäischen“ kann man übrigens beliebig weiter fortsetzen (nur Gasherde, keine Wasserkocher, ständig ausflippende Auto-Alarmanlagen, kein TÜV, kaum Verkehrsregeln, herumstreunende Hunde, korrupte Polizei, aber natürlich auch die offene, herzliche Art der Südamerikaner u.v.m.). An diesem Samstag haben wir die Mentalität jener Kinder etwas besser kennenlernen dürfen, indem wir mit ihnen malten, Autos spielten, Drachen bastelten und sie auch badeten. Dennoch war dieser Tag, vollgepfropft mit neuen und erschütternden Erlebnissen, die uns Kraft raubten; sowohl physisch, als auch psychisch. Wir hätten deshalb rein gar nichts dagegen gehabt, heute mal früher ins Bett gehen zu können und ausgeruht in den Sonntag zu starten. Doch wie das hier so ist, kamen wir letztendlich doch erst um halb drei Uhr nachts zum Schlafen, da wir noch mit einigen Jugendlichen etwas unternahmen.

Zwischenzeitlich wurde leider der Mann des älteren Ehepaares, bei welchem wir zur Zeit leben, ins Krankenhaus eingeliefert, glücklicherweise geht es ihm jetzt aber schon ein bisschen besser. Ramona und ich haben innerhalb der letzten paar Tage  richtig gespürt, wie wir langsam beginnen, uns hier zu integrieren. Sowohl in die Gemeinschaft der jungen Leute, mit denen wir regelmäßig Kontakt haben (Billardspielen, Pizzaessen, Kuchenbacken, Musizieren, Spazierengehen, …), als auch in diese besondere Art Argentiniens, die netten Leute in den „tiendas“ (Geschäften), unser Wohnort oder auch das Essen…Die Arbeit in der Copa de Leche wird einfacher, weil wir einige Kinder schon kennen und auch wissen, was zu tun ist und wie wir das Brot aufzuschneiden haben. Als vollwertige „amas de casa“ (wörtlich „Hausseelen“, Hausfrauen), die nun endlich im siebenmonatigen Besitz einer gemütlichen Ferienwohnung sind, freuen wir uns auf die nächsten paar Monate, auf eine spannende Zeit in ARGENTINIEN.